DEUTSCH-DEUTSCHE HIMMELSKANONE

GESCHICHTE DER ARCHENHOLD-STERNWARTE IN ABRISSEN

Postkarte der Berliner Gewerbeausstellung, 1896
Archiv der Archenhold-Sternwarte

27. Oktober 1891

Der Astronomie-Student Friedrich Simon Archenhold macht eine Entdeckung mit Folgen:

Der von mir photographierte Nebel zeigte sich zuerst am 27. October als ein äußerst lichtschwacher Fleck auf zwei Platten, die 32 mal 30° exponiert waren und wegen der provisorischen Aufstellung des Apparates – es waren die ersten Aufnahmen in Halensee – noch keine exacten Bilder der Sterne gaben.“ Zitiert aus: Astronomische Nachrichten, Ausgabe 129, 1891

Archenhold kann den sogenannten California-Nebel im Sternenbild Perseus fotografisch abbilden. Dieses Ereignis wird für ihn zur Initialzündung, in einem gesellschaftlichen Klima von Fortschritt und Industrialisierung ein Fernrohr der Superlative zur Himmelsbeobachtung für Berlin bauen zu lassen.

Perseus-Nebel, fotografiert von Friedrich Simon Archenhold
Archiv Fred Archenhold

Sommer 1894

Das damals größte Linsenfernrohr der Welt entsteht: Vornehmlich unterstützt von privaten Spender:innen, kann Archenhold bei der Berliner Firma Ernst Karl Theodor Hoppe die Konstruktion eines Riesenfernrohrs in Auftrag geben. Das Modell für die Berliner „Himmelskanone“ ohne bewegliche Beobachtungsplattform ist innovativ, ihr Konstrukteur Friedrich Meyer statuiert:

Hoppe „hatte die Kühnheit, ein Fernrohr von 21m Brennweite so zu montieren, dass sich das Okular am Schnittpunkt von Stunden- und Deklinationsachse befand und das riesenlange Rohr um das Okular als Drehpunkt bewegt werden konnte“. Zitiert aus: Zeitschrift für Instrumentenkunde 50, 1930

Postkarte Gewerbeausstellung 1896
Sammlung Sophie-Therese Trenka-Dalton

1. Mai 1896

Die Berliner Gewerbeausstellung eröffnet im Treptower Park – und ist Anlass, den Großen Refraktor erstmals und vor Publikum in Betrieb zu nehmen. Auf einem Areal von 900.000 Quadratmetern stellen 3.780 Berliner Betriebe aus. Thematische Kulissenviertel wie „Alt-Berlin“, ein „Alpenpanorama“ und „Kairo“ bieten Unterhaltung und Gastronomie. Gleichzeitig findet die „Erste Deutschen Kolonial-Ausstellung“ statt. Kaiser Wilhelm II. bewirbt die Seestreitkräfte des Deutschen Kaiserreichs mit Marine-Schauspielen auf einer Wasseranlage gegenüber dem Standort des Großen Refraktors. Zur Eröffnungsfeier der Gewerbeausstellung heißt es in einem kaisertreuen Berliner Abendblatt:

„Von dem Dampfer ‚Bremen‘ donnern Kanonenschüsse. Sie künden das Nahen des kaiserlichen Dampfers ‚Alexandria‘. Das Musikkorps des Kaisers spielt das ‚Heil Dir im Siegerkranz‘. Und zu den gewaltig dahinziehenden Klängen das brausende ‚Hurrah‘ der Menschenmassen. Wundervoll ist das sich bietende Schauspiel. Ein Flaggenmeer im leuchtenden Sonnenschein, so weit das Auge reicht.“
Zitiert aus: „Vossische Zeitung“, 1. Mai 1896

Die Inbetriebnahme des Großen Refraktors verzögert sich bis zum 20. Juni 1896, trotzdem wird das Fernrohr zum Publikumserfolg. Wirtschaftlich ist es aber ein Verlustgeschäft, wie auch die gesamte Berliner Gewerbeausstellung. Archenhold kann daher den vertraglich geforderten Abbau des Instruments nicht durchführen, das Fernrohr bleibt bis auf weiteres im Treptower Park.

Postkarte 1918
Archiv der Archenhold-Sternwarte

4. April 1909

Fast dreizehn Jahre nach seiner Inbetriebnahme wird die provisorische Holzarchitektur um das Fernrohr durch ein dauerhaftes Gebäude ersetzt. Ausgestattet mit einer neuen Bibliothek, Vortrags- und Ausstellungssälen tritt die „Treptow-Sternwarte“ in den „Dienst der öffentlichen Volksbildung“. Erster Direktor ist Friedrich Simon Archenhold. Zur Einweihung des Gebäudes erscheinen 600 Gäste, Archenhold schreibt dazu:

Die Epoche der Hindernisse ist freilich überwunden, jetzt beginnt die Periode der Schwierigkeiten. (…) Eine fruchtbare Popularisierung unserer Wissenschaft kann und darf sich meiner Meinung nach nur aufbauen, auf eine eigenständige wissenschaftliche Forscherarbeit, welche allein Gewähr dafür bietet, dass die immer neu auftauchenden Probleme der Wissenschaft auch mit der richtigen Vorsicht und Tiefe erfasst werden können“. Zitiert aus: „Das Weltall“, 9. Jahrgang, 1909.

Friedrich Simon Archenhold am Großen Refraktor bei Tag, ca. 1920
Archiv Fred Archenhold

2. Juni 1915

Albert Einstein hält in Berlin seinen ersten öffentlichen Vortrag über die Allgemeine Relativitätstheorie in der Treptow-Sternwarte. Archenhold wird in der Zeitschrift „Das Weltall“ bis 1933 noch 30 Beiträge über Einsteins Theorie und ihre Konsequenzen in der Wissenschaft veröffentlichen. Sein Einsatz für Einstein ist Teil seines grundsätzlichen Bestrebens als Direktor der Sternwarte, wissenschaftliche Erkenntnisse in der Bevölkerung zu verbreiten.

2. Oktober 1931

Friedrich Simon Archenhold wird 70 Jahre alt und tritt als Direktor der Treptow-Sternwarte zurück. Sein Sohn Günter Archenhold übernimmt die Position.

Juni 1936

Die Nationalsozialisten setzen Günter Archenhold als Direktor der Treptow-Sternwarte ab. Der Familie Archenhold verwehren sie wegen ihrer jüdischen Abstammung jeglichen Zugang zur Sternwarte, die Zeitschrift „Das Weltall“ dürfen sie fortan nicht mehr herausgeben. Friedrich Simon Archenhold schreibt 1937 an eine ehemalige Mitarbeiterin:

Schwer, sehr schwer wird es für mich, die von mir unter persönlichen Opfern vor vielen Jahren gegründete Zeitschrift nicht mehr als Herausgeber leiten zu dürfen. Ja, ich erhalte nicht einmal eine Gratisnummer, obgleich ich immer das Defizit des ‚Weltalls‘ gedeckt habe und zwar aus persönlichen Mitteln. In der monatlichen Planetenkarte, die ich persönlich erdacht habe, ist mein Name auf dem Originalklisché ausgekratzt. Nichts soll an die früheren Epochen erinnern.“ Zitiert aus: „Blick in das Weltall“, Heft 5, 1965

Familie Archenhold in Bansin, 1934
Von links nach rechts: Friedrich Simon Archenhold, Alice Archenhold, Hilde Archenhold, Luise Segebrecht, Günther Archenhold
Archiv Fred Archenhold

1939 – 1943

Friedrich Simon Archenhold stirbt am 14. Oktober 1939 eines natürlichen Todes in Berlin. Günter Archenhold, bereits 1936 im Konzentrationslager Dachau interniert und wieder freigekommen, emigriert 1939 über die Schweiz nach England. Alice Archenhold, die Ehefrau und Mitarbeiterin von Friedrich Simon, und Tochter Hilde Archenhold werden 1942 von Berlin aus ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und dort in den folgenden Jahren ermordet.

9. Juli 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Große Refraktor trotz Kriegsschäden wieder betriebsfähig und es findet eine erste öffentliche Beobachtung einer Sonnenfinsternis statt.

August 1946

Auf Beschluss des Berliner Magistrats wird die Treptower Sternwarte in Erinnerung an ihren Gründer in „Archenhold-Sternwarte Berlin-Treptow“ umbenannt.

3.–6. April 1948

In der Archenhold-Sternwarte formulieren 102 Vertreter:innen von Sternwarten, Volkshochschulen und wissenschaftlichen Zeitungen während eines Kongresses die Aufgabe der Volkssternwarten in Nachkriegsdeutschland unter anderem als „Weltbildpflege und Amateurarbeit, die zu einem harmonischen Ganzen zu verschmelzen seien“ (aus der Ansprache des kommissarischen Leiters der Archenhold-Sternwarte Edgar Mädlow). Diese Definition bleibt maßgeblich für die nächsten Dekaden, trotz der politischen Teilung Deutschlands ab 1949.

1957 – 1966

Der Start von Sputnik läutet das kosmische Zeitalter ein:

Als jedoch am 4. Oktober 1957 der erste Sputnik unsere Erde umkreiste und Millionen von Menschen auf den Straßen standen, um den künstlichen sowjetischen Mond der Erde zu erspähen, wurde sehr bald deutlich, dass die Sowjetunion das Tor zu einer neuen Etappe der wissenschaftlich-technischen Revolution aufgestoßen hatte“. Dieter B. Herrmann, ab 1976 Direktor der Archenhold-Sternwarte, zitiert aus: „Sterne über Treptow“, 1986.

1959 führt die DDR-Regierung den Astronomieunterricht an den erweiterten Oberschulen als Pflichtfach ein, die Volkssternwarten werden noch stärker zu Bildungseinrichtungen. Die Archenhold-Sternwarte erhält im gleichen Jahr ein Kleinplanetarium der Firma Zeiss, das 3.000 Sterne auf eine künstliche Himmelskuppel projizieren kann, es folgen später ein Zeiss-Coudé Refraktor, ein Zeiss-Cassegrain-Spiegelteleskop und ein Sonnenphysikalisches Kabinett. Der Große Refraktor hingegen ist seit 1958 stillgelegt.

Briefumschlag DDR
Sammlung Sophie-Therese Trenka-Dalton

21. September 1978

Kosmonaut Sigmund Jähn und Kommandant Waleri Fjodorowitsch Bykowski werden in Ost-Berlin stürmisch empfangen. Hunderttausende grüßen die Weltraumfahrer auf ihrer Fahrt im offenen Wagen durch die Stadt. An der Archenhold-Sternwarte angekommen, wird in ihrer Gegenwart der „Hain der Kosmonauten“ eingeweiht und eine Bronzebüste Jähns vom Bildhauer Gerhard Rommel enthüllt.

November 1983

Nachdem er 25 Jahren stilllag, kommt der Große Refraktor für eine Mondbeobachtung erstmals wieder öffentlich zum Einsatz. Das mittlerweile denkmalgeschützte Riesenfernrohr wurde zuvor in sechsjähriger Arbeit generalüberholt.

Postkarte 1960
Archiv der Archenhold-Sternwarte

6. November 1990

Kurz nach der Wiedervereinigung beschließt die Gesamtberliner Landesregierung, die in Ostberlin liegenden Archenhold-Sternwarte und Zeiss-Großplanetarium zu privatisieren. Ein freier Träger soll die Finanzierung des Betriebs übernehmen. Dazu der damalige Direktor Dieter B. Herrmann:

Im Fachjargon hieß es, die Sternwarte solle mit dem Ziel der Privatisierung ‚abgewickelt‘ werden. Binnen kürzester Zeit war der Betrieb auf eine neue personelle Struktur umzustellen (…) Dieser drastische Personalabbau von ehemals 80 Mitarbeitern auf 28 für beide Häuser war mit unzähligen Diskussionen und zahlreichen persönlichen Härten für viele verbunden.(…) Hinzu kam der weitgehende Zusammenbruch der Besucherstrukturen: Schulklassen, die im Rahmen des obligatorischen Astronomieunterrichts kamen, Brigaden der großen Betriebe, Teilnehmer an der Jugendweihe und andere ‚gesellschaftlich organisierte‘ Besucher fehlten völlig.“ Zitiert aus: „Blick in das Weltall“, 1994

Kurz nach dem Entschluss der Landesregierung wird der gemeinnützige „Förderverein der Archenhold-Sternwarte und des Zeiss-Großplanetarium Berlin e.V.“ gegründet, der bis heute die Arbeit der Archenhold-Sternwarte maßgeblich unterstützt.

12. Oktober 1996

1.000 Gäste kommen zum 100-jährigen Jubiläum der Archenhold-Sternwarte und verweisen auch auf wieder ansteigende Besucherzahlen. Fred Archenhold aus Leeds, Sohn des von den Nationalsozialisten vertriebenen Direktors Günter Archenhold, hält eine Festrede. Sein 92-jähriger Vater übermittelt Grußworte aus England per Video.

1. Juli 2016

Nachdem das Zeiss-Großplanetarium und die Archenhold-Sternwarte 14 Jahre lang Standorte des Berliner Technikmuseums waren, werden sie mit dem Planetarium am Insulaner und der Wilhelm-Foerster-Sternwarte Schöneberg zur „Stiftung Berliner Planetarien und Sternwarten“ zusammengeführt. Heute ist die Archenhold-Sternwarte eine Bildungseinrichtung, deren Programm mit Museum, Vorführungen, Vorträgen, Planetarium und Nutzung der technischen Anlagen sich an Menschen unterschiedlichen Alters richtet.